[24.04.2023]
Die Dekarbonisierung der Energieversorgung erfordert die Maximierung der Elektrifizierung und die dezentrale Energieerzeugung mit Hilfe von erneuerbaren Energietechnologien wie Wind-, Kern- und Solarenergie sowie Carbon Capture and Storage. Obwohl keine bahnbrechenden technologischen Innovationen zur Energieerzeugung oder -verteilung in absehbarer Zeit erwartet werden, wird die Digitalisierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Schlüssel zum Erfolg sein. Die Energiesysteme der Zukunft werden zu komplex sein, um sie allein mit menschlichen Gehirnen und manuellen Eingriffen zu kontrollieren, deshalb ist eine konsequente Digitalisierung unerlässlich.
Wenn wir auf die zurückliegenden drei Jahre blicken, ergibt sich das Bild einer Welt, die sich durch plötzlich auftretende Krisen schnell verändert. Die Phase der Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben bei vielen Menschen den Eindruck kontinuierlicher Unbeständigkeit hinterlassen. Im Kontrast hierzu scheint für die größte Menschheitsaufgabe unserer Zeit, der Bekämpfung des Klimawandels und dem Umbau der Industriegesellschaften in Richtung einer grünen, „zero-carbon economy“, das zahlenscharfe Ziel fest im Blick. Der Fahrplan zur Dekarbonisierung der wichtigsten Volkswirtschaften steht: Europa und die USA wollen bis 2050 klimaneutral sein, die Volksrepublik China bis 2060.
Jenseits der zahlenscharfen Ziele, um die im politischen Raum umso verbissener gerungen wird je weiter das Datum ihres Erreichens in der Zukunft liegt, stellt sich die Frage, was eigentlich genau geschehen muss, damit diese Ziele realistisch erreichbar werden?
Zumindest ist klar, was nicht geschehen wird, zumindest nicht in den nächsten 20-30 Jahren: weder bis 2060 noch gar bis zur Mitte dieses Jahrhunderts werden bahnbrechende technologische Sprunginnovationen zur Energieerzeugung oder -verteilung einen nennenswerten Beitrag zu dieser Transformation leisten. Es ist gut möglich, dass Zukunftsprojekte wie modulare Mini-Atomkraftwerke, Fusionsreaktoren, supraleitende Transportleitungen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zur Serienreife entwickelt werden können. Tatsache ist jedoch: die Basistechnologien der Energiewirtschaft für den Weg in eine dekarbonisierte Energiewelt können nur diejenigen sein, die bereits heute im Wesentlichen vorhanden sind. Wir werden schlicht aus Gründen des zeitlichen Forschungsfortschritts unsere Ziele im globalen Maßstab nur mit Windenergie, Kernenergie, Carbon-Capture and Storage und, vor allen Dingen, mit Solarenergie, erreichen können. Natürlich werden wir in all diesen Technologien Fortschritte, Skaleneffekte, Effizienz- und Kostenentwicklungen sehen. Aber klar ist auch: Es wird bis Mitte dieses Jahrhunderts keine „Silver Bullet“, keine bahnbrechend neue Technologie zur Energieerzeugung hinzukommen.
Auf dem Weg zur Dekarbonisierung müssen wir uns in Europa außerdem vergegenwärtigen: Wir werden ein Importeur gewaltiger Mengen von Energie bleiben. Auch mit erneuerbaren Energien werden wir nicht in der Lage sein, uns auf absehbare Zeit selbst zu versorgen. Heute sind wir noch auf den Import von Gas und Öl angewiesen. Morgen wird es die Einfuhr von grünem Wasserstoff und seinen Derivaten sein. Für Europa, wie den Rest der Welt, ergibt sich daraus diese Erkenntnis: Auch in Zukunft wird die Welt der Energieversorgung eine „Dual-Fuel“-Welt sein. Ein Mix aus grün erzeugten Elektronen in „Reinform“ – dezentral erzeugt und dezentral verbraucht – und grünen Elektronen in Form von Molekülen – flüssig oder gasförmig.
Worin besteht also die notwendige Transformation, was lässt die Energiewelt im Jahre 2050 so anders aussehen als heute, schlussendlich: was sind die großen Treiber der Innovation? Die Antwort lautet: Neben Kilowatt bestimmen Kilobytes in entscheidender Weise die Gegenwart und unmittelbare Zukunft im Energiesektor. Die Digitalisierung, und zwar „end-to-end“ entlang der gesamten Wertschöpfungskette, ist das Spielfeld, auf dem sich die erfolgreichen Cases in den kommenden 20-30 Jahren entwickeln und beweisen werden.
Die Dekarbonisierung der Energiesysteme hat eine klare Voraussetzung: Die maximale Elektrifizierung! Der Pfad höchster Effizienz ist die dezentral und mit Hilfe erneuerbarer Erzeugungstechnologien erzeugte Kilowattstunde, die mit geringsten Umwegen über Transformation in höherer Netzebenen oder gar Umwandlung in molekulare Transport- oder Speichermedien vor Ort verbraucht wird. Um diese Netzwerke im Gleichgewicht zu halten und miteinander in Austausch treten zu lassen, braucht es vor allem eines: konsequente Digitalisierung! Denn das schiere Volumen von Elektronen im System, in Zukunft dezentral erzeugt und verbraucht, wird nicht nur durch „mehr Kupfer in der Erde“ beherrschbar sein. Die Energiesysteme der Zukunft werden zu komplex sein, um sie allein mit menschlichen Gehirnen und manuellen Eingriffen zu kontrollieren. Wir werden daher Technologien wie Künstliche Intelligenz, Blockchain, ebenso einsetzen müssen, wie augmented- und virtual Reality. Nicht zu vergessen das vielleicht wichtigste Instrument im digitalen Werkzeugkasten: Die jeweils aktuellen Cybersecurity-Anwendungen, um Systeme sicher und stabil zu halten.
Wie groß ist die transformative Kraft von Innovationen im Bereich der Digitalisierung für die Energiewirtschaft? Drei Beispiele machen sie für mich besonders deutlich:
Um zu jedem Zeitpunkt die dezentralen Energiesysteme im Gleichgewicht zu halten ist es erforderlich, jederzeit ein digitales Abbild der Zustände in den Verteilnetzen zu erhalten. Die wichtigsten Knotenpunkte im Verteilnetz sind die Übergabestellen der sogenannten Mittelspannungs- an die Niederspannungsnetze, die sogenannten „Ortsnetzstationen“. Die Digitalisierung dieser Ortsnetzstationen, in Deutschland alleine mehrere hunderttausend, wird in Zukunft eine Abbildung des gesamten Energienetzes als „Digital Twin“ ermöglichen. Wir bei E.ON werden unsere Ortsnetzstationen bis 2025 vollständig digitalisieren. Durch den Aufbau dieser digitalen Zwillinge wird es nicht nur möglich, einzelne Assets erneuerbarer Energien, wie Windturbinen oder Solarpanels zu modellieren. Auch, und vielleicht viel wichtiger, das Zusammenspiel dieser Assets kann simuliert werden, um so Rückschlüsse auf eine operative Steuerung in der Realität zu gewinnen und Optimierungspotentiale voll auszunutzen. Digital Twins sind damit ein Schlüssel des zukunftsfähigen Energiemanagements. Sie öffnen den Weg für Effizienz, Zuverlässigkeit und Konsistenz – Eigenschaften, die für Energieerzeuger, Händler und Verbraucher unverzichtbarer denn je sind.
Zentral gesteuerte Top-Down-Netzwerke sind Vergangenheit. Die Zukunft gehört „Smart Grids“, KI-gesteuerten Netzen, in denen Algorithmen und Daten helfen, Erzeugung, Verbrauch und Speicherung in kleinräumigen Netzwerken, z.B. Wohnquartieren, Industrieanlagen oder Gewerbeparks, punktgenau aufeinander abzustimmen. Und die sich vor allem weitgehend unabhängig anhand vorher festgelegter Parameter selbst steuern. Bei E.ON haben wir mit GridX einen Softwareentwickler an unsere Seite geholt, der für diese neue operative Welt die entsprechenden Plattformen entwickelt. Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist die neu entwickelte Energiemanagement-Lösung „GridBox“, die Daten digital zugänglich macht. Diese können Kundinnen und Kunden aktiv einsehen und steuern, beispielsweise indem sie ihr E-Auto dann laden, wenn eine angeschlossene Solaranlage Strom produziert und dieser im Überfluss vorhanden ist. „GridBox“ ist an der E.ON-Konzernzentrale in Essen bereits im Einsatz. Dort ermöglicht ein intelligentes Lastmanagement dynamisches Laden für die E-Autos unserer Mitarbeiter. Bei gleicher Kapazität können so im hauseigenen Netz mehr E-Autos geladen und die Ladeleistung erhöht werden, ohne dass neue, teure Leitungen verlegt werden müssen. Vorhandene Energie wird optimal eingesetzt. Diese und ähnliche Systeme zu skalieren und zu optimieren, wird eine der wesentlichen Aufgaben sein, denen wir uns bei E.ON im Bereich der Digitalisierung in den kommenden Jahren widmen werden. Sowohl wenn es um das Erreichen unserer eigenen Nachhaltigkeitsziele als auch um Lösungen für unsere Kunden geht.
Die Energiewelt der Gegenwart lässt gigantische Sparpotentiale noch weitgehend liegen. – allein in Deutschland gehen jedes Jahr ca. 200 Terrawattstunden Energie in Form von Abwärme verloren. Thermische Batterien können dazu eingesetzt werden, diese Abwärme zurückzugewinnen und als Primärenergie wiederzuverwenden. Gleichzeitig können sie die schwankende Leistung von Wind- und Solaranlagen ausgleichen. Produzierende, speichernde oder verbrauchende Akteure am Strommarkt können Teil eines „virtuellen Kraftwerks“ werden. Durch diese virtuellen Kraftwerke können Echtzeit-Daten über die aktuelle Auslastung und Prognosen erstellt werden. Auf dieser Basis schalten sich die dezentralen Anlagen, etwa Windparks zu oder ab, je nachdem wie hoch der Bedarf ist. All das passiert vollautomatisch und digitalisiert. Die ständig schwankende, dezentrale Welt der erneuerbaren Energien wird so planbar. Und damit wir fähig, die Energiewende zu vollziehen.
Es muss viel geschehen, damit sich aus politischen Programmen eine Transformation materialisiert. Allein in Deutschland müssen bis 2030 sechs neue Windräder gebaut werden – pro Tag! Wir brauchen einen Zubau von durchschnittlich bis zu 10 GW pro Jahr, was in der Vergangenheit in keinem Jahr auch nur annähernd erreicht wurde. Aber selbst wenn das gelingt: nur die konsequente Digitalisierung der Verteilnetze verhindert, dass diese neu entstehenden Wind- und Solarparks und Aufdachanlagen als gigantische „Elektronenschleudern“ auf dem platten Land abgeregelt werden müssen, weil der Strom nicht seinen Weg zum dezentralen Verbraucher findet.
Plattformtechnologien, die andere Industrien bereits radikal transformiert haben, stecken in der Energiewirtschaft noch in den Kinderschuhen. Junge, schnell wachsende Startup-Unternehmen bringen hier radikale neue Ideen ins Spiel. Die Herausforderung steckt für diese Unternehmen darin, in den Massenmärkten ausreichend schnell zu skalieren. Die Lösung liegt in der engeren Kooperation von Startups und etablierten Playern der Energiewirtschaft, die Kraft und Mut haben, sich zum Teil selbst zu disruptieren.
E.ON führt seine zukünftigen digitalen Geschäftsmodelle und Applikationen auf der Plattform „E.ON One“ zusammen. „E.ON One“ beinhaltet unter anderem die Softwareschmieden „GridX“ und „envelio“, weitere werden folgen. So bringen wir unsere digitalen Lösungen zusammen und verhindern, dass ein „Patchwork“ aus isolierten Produkten entsteht. Über „E.ON One“ entwickeln wir heute kommerzielle Lösungen, die für unser operatives Kerngeschäft von zentraler Bedeutung sind und unseren Status als Vorreiter auf dem europäischen Markt weiter ausbauen. „E.ON One“ wird in Zukunft auch unsere Partner wie Stadtwerke, Verteilnetzbetreiber, Anbieter erneuerbarer Energien oder Betreiber von Elektromobilität bei der Anbindung, Steuerung und Optimierung ihrer dezentralen Energieressourcen unterstützen.
Ein Gastbeitrag von Thomas Birr, Chief Strategy & Innovation Officer bei der E.ON SE