[15.06.1999]
In einem Unternehmen der Fahrzeugindustrie kennzeichnen den Einkaufsbereich lange Durchlaufzeiten und hohe Lieferverzugsquoten. Weiterhin waren hohe Bestände im Wareneingangslager zu konstatieren. Als Hauptursachen dieser Defizite konnten zum einen mit Hilfe einer ABC-Analyse die sehr hohe Anzahl von Lieferanten (mehr als 1600), vor allem von C-Lieferanten, ermittelt werden, zum anderen war auch die Gesamtzahl der Teile aufgrund von Defiziten bei Produktaufbau und Produktstruktur verbesserungswürdig. Darüber hinaus existierten, trotz unterschiedlicher Anforderungen, keine differenzierten Beschaffungsstrategien für ABC-Teile und -Lieferanten. Diese Defizite führten zu einer hohen, nicht mehr handhabbaren Komplexität bei den Beschaffungsabläufen. Bei der Analyse der bestehenden Einteilung der Materialien in Materialgruppen stellte sich heraus, das diese Klassifizierung in keinem Zusammenhang mit der Ableitung von differenzierten Beschaffungsstrategien stand. Die Materialgruppen waren klassisch nach Materialarten (Guss, Stahl,...) gegliedert und zeigten keinerlei Homogenität bezogen auf die Komplexität der Beschaffungsaufgabe. Daher wurde eine Neugliederung der Materialgruppen in 15 strategische Beschaffungseinheiten vorgenommen, wobei diese die gleichen Anforderungen an die Beschaffungsaufgabe stellen und somit auch die gleiche Beschaffungsstrategie angezeigt war. Unter Zugrundelegung dieser neuen Gliederung konnte ein Beschaffungsgüter-Portfolio erstellt werden. Die x-Achse des Portfolios basiert dabei auf einer ABC-Analyse der strategischen Beschaffungseinheiten über dem Einkaufsvolumen. Die y-Achse stellt das Versorgungsrisiko der jeweiligen strategischen Beschaffungseinheit dar. Somit konnten die strategischen Beschaffungseinheiten in die Bereiche strategische Materialien mit hohem Anteil am Beschaffungsvolumen und hohem Versorgungsrisiko, Kernmaterialien (hohes Beschaffungsvolumen, geringes Versorgungsrisiko), Bottleneck-Materialien (geringes Beschaffungsvolumen, hohes Versorgungsrisiko) und Standardmaterialien (geringes Beschaffungsvolumen, geringes Versorgungsrisiko) eingeteilt werden. Für jede strategische Beschaffungseinheit wurde weiterhin ein Beschaffungsquellenportfolio erstellt, indem die aktuellen Lieferanten, bewertet hinsichtlich Entwicklungspotential und Angebotsmacht, dargestellt wurden. Die Zusammenfassung der beiden Portfolios ergibt das Beschaffungsgüter-/Beschaffungsquellen-Portfolio (vgl. Abb. 4). Auf Basis dieses Portfolios wurden Maßnahmen zur Reduzierung der Komplexität festgelegt und umgesetzt: weniger Lieferanten (z.B. Maximalzahl von Lieferanten pro strategische Beschaffungseinheit), verstärkter Einsatz von Standard- und Lebenszyklusverträgen, verstärkte Zusammenarbeit mit ausgewählten Lieferanten (Modular und System Sourcing). Hierdurch wurden die Zahl unterschiedlicher Beschaffungsprozesse vermindert und die abgewickelten Volumina pro Beschaffungsprozessalternative gesteigert, so dass die Lieferantenreduzierung auch eine Abnahme der internen Prozesskosten nach sich zog und nicht zuletzt der im Einkauf anfallende Aufwand für Lieferantenpflege, Auswahl und Kontrolle deutlich gesenkt werden konnte. Als positiver Nebeneffekt konnten aufgrund der deutlich gestiegenen Abnahmemengen bei den verbleibenden Lieferanten Preisrabatte bis zu 10% erzielt werden. Aus der Vielfalt der Lieferanten, der Beschaffungsobjekte und der internen Kunden-Lieferanten-Verhältnisse resultiert eine Vielfalt an Beschaffungsprozessen im Unternehmen. Innerhalb der unterschiedlichen Beschaffungsprozesse kann die Komplexität mit Hilfe einer detaillierten Beschaffungsprozessanalyse gemessen werden. Die Beschaffungsprozessanalyse dient der Erfassung des Beziehungsgeflechts und Kostengerüstes der Komplexitätskosten der Beschaffungsgüter, welche bei der Bereitstellung der Güter in der logistischen Kette zwischen Lieferant und Verbrauchs- oder Verbauort im Unternehmen entstehen. Die Komplexitätsbeurteilung aufgrund von Prozessketten basiert auf der Erfassung der den Prozess gestaltenden Aktivitäten. Dabei ist die Frage zu beantworten, welche Prozesse analysiert werden sollen und wo die ausgewählten Prozesse ihren Anfangs- und Endpunkt besitzen. Für einen Abrufprozess bildet der Anfangspunkt den Zeitpunkt der Feststellung des Bedarfs, der Prozess endet mit der Bereitstellung des Materials am Verbrauchsort. Die Analyse der Prozesse ist zunächst auf diejenigen Prozesse zu konzentrieren, die bei der Bereitstellung der A-Materialien durchlaufen werden. Für die B- und C-Güter kann ein typischer Prozess ausgewählt werden. Die Abschätzung der Bearbeitungs- und Durchlaufzeit pro Aktivität, der genutzten Informationsmittel, der Komplexitätsursachen sowie der Schwachstellen runden die Analyse ab. Um die Komplexität in der Beschaffung zu verringern, sind auch Ansätze zu verfolgen, die die Stellung des Unternehmens in der Wertschöpfungskette, dem Reifegrad des Produkts, die Größe des Unternehmens oder die Innovationsdynamik des Produkts berücksichtigen. Ausgehend von den Stoßrichtungen des Variantenmanagement, Komplexität zu reduzieren, zu beherrschen und zu vermeiden, lassen sich häufig Ansätze nur in Kombination mit anderen Ansätzen realisieren (vgl. Abb. 5). Die Modul- und Systembeschaffung kann ohne eine vertragliche Absicherung in Lebenszyklus- und Rahmenverträgen nicht umgesetzt werden. Die Mehrfachverwendung von Teilen oder Rohstoffen ist eng gekoppelt an die Möglichkeiten der Substitution oder an die Möglichkeit der Standardisierung oder Normung von Materialien. Materialsubstitution bewirkt in diesem Zusammenhang eine Reduzierung der Anzahl unterschiedlicher Materialien, was sowohl zu weniger Komplexität in der Planung, Steuerung und Disposition sowie der Logistik führen kann, als auch aus der Beschaffungssicht noch Bündelungseffekte von Einkaufsvolumina zur Folge haben kann. In die gleiche Richtung zielen die Ansätze der Standardisierung oder Normung von Bauteilen oder die Mehrfachverwendbarkeit von Bauteilen, die schon bei der Komplexität der Produkte diskutiert wurden. Hinzu kommt bei der Normung und Standardisierung, dass die Abwicklungskomplexität der Beschaffungsaufgabe und die Komplexität der Logistik tendenziell geringer werden, da keine teilespezifischen Zusatzaufwendungen anfallen. Umgekehrt nehmen mit der zunehmenden Spezifität des Bauteils oder Materials die Aufwendungen bei der Bereitstellung am Verbrauchsort zu, da beispielsweise zusätzliche Transportspiele mit kleineren Losgrößen anfallen oder spezifische Behälter verwendet werden müssen. Die Modul- und Systembeschaffung führt dazu, dass im Abnehmer-Unternehmen eine wesentlich geringere Zahl unterschiedlicher Teile und Materialien koordiniert werden muss, denn die logistische Zusammenführung der einzelnen Elemente der Module und Systeme übernimmt der Lieferant. Daraus resultiert sinkende Teile- und Prozessvielfalt in der Beschaffung. Für die Beschaffung ergeben sich bei der Plattformstrategie ähnliche Konsequenzen wie bei der Modul- oder Systembeschaffung. Die Optimierung der Leistungstiefe beeinflusst unmittelbar das zu beschaffende Güterspektrum und damit auch die Vielfalt der Ausprägungen und die Komplexität der Beschaffungsaufgabe innerhalb von Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen. Bei Verbundbeschaffung geht es vor allem darum, Beschaffungsvolumina zu bündeln, um so Skaleneffekte beim Lieferanten und Abnehmer zu erzielen. Daraus resultiert im Wesentlichen eine verringerte Beschaffungsprozesskomplexität, da eine zentrale Beschaffungsstelle die Interessen aller beteiligten Bedarfsträger koordiniert. Durch differenzierte Vertragsgestaltung kann diese weiter reduziert werden, beispielsweise durch das vereinfachte Abrufen von Materialien aus Rahmenverträgen. Andererseits erfordern Konzepte wie Modul- oder Systembeschaffung umfangreichere Regelungen innerhalb von Verträgen und andere Vertragsformen. Die Verlagerung und Übertragung von Logistikleistungen auf den Lieferanten wie Qualitätssicherung, Verpackungs- und Kommissionierumfänge, Preisauszeichnungen bis hin zur produktionssynchronen Anlieferung beim Abnehmer am Verbrauchsort, senkt im erheblichen Umfang die Beschaffungsprozesskomplexität aus Sicht des Abnehmers. Aus Sicht des Lieferanten eröffnen diese zusätzlichen Logistikleistungen Differenzierungspotentiale gegenüber Wettbewerbern und Zusatzgeschäfte. Durch die organisatorische Trennung von strategischen und operativen Aufgaben wird vielfach ein strategisches Ausrichten und ein differenziertes Ableiten von Beschaffungsstrategien ermöglicht. Sie bildet somit die Basis zum Umsetzen aller weiterführenden Konzepte zur Optimierung der Beschaffungsfunktion in einem Unternehmen. Die organisatorische Trennung von strategischen und operativen Aufgaben führt zwar anfänglich zu mindestens zwei möglichen Schnittstellen im Beschaffungsprozess, jedoch wird durch die Integration von Beschaffungsaufgabe, Verantwortung und Kompetenz die Anzahl der im operativen Beschaffungsprozess involvierten Abteilungen erheblich verringert, was zu einer sinkenden Beschaffungsprozesskomplexität führt. Das Segmentieren der Beschaffungsgüter in Materialgruppen bildet dabei eine wesentliche Voraussetzung. Die Einteilung der Beschaffungsgüter in Materialgruppen ermöglicht auch eine differenzierte Ausgestaltung der Teile- und Prozessvielfalt pro Materialgruppe. Die Dezentralisierung operativer Einkaufsaktivitäten an die Wertschöpfungsprozesse ist eng verknüpft mit dem Ansatz der Modularisierung von Organisationseinheiten, die in mehreren Dimensionen eine erhebliche Reduzierung der Unternehmenskomplexität bewirkt. Die Einrichtung eines interdisziplinär besetzten Buying-Centers stellt eine mögliche organisatorische Alternative zur Vorverlagerung von Beschaffungsaktivitäten dar.