[03.12.2001]
Cybiz: Wie definieren Sie Supply Chain Management (SCM)?
Wildemann:
SCM umfaßt das Managen einer Wertschöpfungskette mit Hilfe einer neuen
Technologie. Es ist das Ziel eine Wertschöpfungskette vom Point of Sale
aus zu steuern. Darüber hinaus möchte man über fremdes Eigentum
verfügen. Derart, dass man Kapazitäten der Vorlieferanten disponiert,
und über deren Bestände verfügt. Supply Chain Management heißt auch das
Managen von Netzwerken zwischen unabhängigen Unternehmen, die sich zum
Zweck eines Geschäfts zusammenschließen.
Cybiz: Woher kommt in der Wirtschaft das derzeit starke Interesse an E-Logistics und Supply Chain Management?
Wildemann:
Bislang haben sich Unternehmen hauptsächlich auf die Effizienz
innerbetrieblicher Prozesse konzentriert. Angesichts des Trends zur
Globalisierung, zu individuelleren Kundenwünschen und zu sinkenden
Margen in vielen Wirtschaftszweigen gilt es nun, die gesamte
Wertschöpfungskette zu optimieren. Dazu gehören im Wesentlichen die
logistischen Fragestellungen, also Material- und Informationsflüsse.
Hinzu kommt, dass sich Supply Chains nicht mit den gleichen
IT-Werkzeugen optimieren lassen wie die innerbetrieblichen Prozesse.
Cybiz: Welchen Einfluss hat das Internet auf die Optimierung der Supply Chain?
Wildemann:
Das Internet bietet neue Möglichkeiten, wie die Informationstransparenz
über die gesamte Lieferkette hinweg, ohne die Entscheidungsautonomie
der einzelnen Partner zu beeinträchtigen. Dazu gehören auch Konzepte
wie die virtuellen Marktplätze, die wirtschaftlicher sein können als
traditionelle Beschaffungs- und Vertriebsformen.
Cybiz: Welche Effekte verursachen die E-Technologien?
Wildemann:
Der größte Vorteil ist die Geschwindigkeit. Binnen kurzer Zeit lassen
sich mittels neuer E-Technologien weltweit beispielsweise die
günstigsten Lieferanten finden. Die Laufzeit von Projekten verkürzt
sich dadurch drastisch. Die dazu notwendige Informationslogistik lässt
sich schnell und wirtschaftlich gestalten, da die Infrastruktur mittels
Internet zu erschwinglichen Preisen verfügbar ist und viele Unternehmen
bereits funktionierende ERP-Systeme installiert haben. Im Gegensatz
dazu stellt man nun fest, dass die physische Logistik nicht hinreichend
so schnell funktioniert wie die Informationslogistik. Deshalb die
Rückbesinnung auf Supply Chain Management. Neue Konzepte müssen her!
Cybiz: Die IT-Landschaft in den einzelnen Unternehmen ist sehr
unterschiedlich. Entsprechende Anbindungen, so genannte Schnittstellen,
sind in der Regel zeit- und kostenintensiv. Welche Lösungsansätze gibt
es dafür?
Wildemann: Daraus
resultiert die Idee, diese Anbindungen mit Internettechnologie zu
schaffen. Unternehmen wie i2 Technologies oder SAP bieten
Verbindungssoftware, welche die vorhandene IT-Landschaft bestehen
lässt.
Cybiz: Außerdem wird gerade von den großen
Technologie-Anbietern schlüsselfertige SCM-Software angeboten. Rechnen
sich solche Investitionen auch für kleine und mittelständige
Unternehmen?
Wildemann: Für die
Auswahl der geeigneten Technologie benötigen die Unternehmen eine
eigene Beurteilungskompetenz. Diese ist in kleineren und
mittelständischen Unternehmen in der Regel nicht vorhanden. Deshalb
benötigen sie Technologieberatung durch verlässliche Spezialisten. Ich
kann mich als Unternehmen risikoarm bewegen und eine Lösung aus einer
Hand von Markenanbietern nehmen, dann habe ich auch die Gewährleistung,
dass die Software funktioniert. Für große Unternehmen macht das Sinn.
Aber muss ich immer Mercedes fahren, wenn auch ein VW ausreicht? Es
gibt keine perfekte, sondern nur angepasste Lösungen.
Cybiz: Wann sind schlüsselfertige SCM-Lösungen sinnvoll?
Wildemann:
Standardlösungen sind dann sinnvoll, wenn in Geschäftsprozessen eine
hohe Wiederholungshäufigkeit besteht: immer wiederkehrende Abläufe,
sichere Prozesse mit geringen Schwankungen, gleichförmige Produkte,
normierte Sendungen. Je individueller ein Kunde bedient werden soll, je
mehr Kundengruppen angesprochen werden und je mehr
Alleinstellungsmerkmale ein Unternehmen hat, desto weniger eignet sich
eine schlüsselfertige SCM-Lösung.
Cybiz: Die Treiber der
heutigen SCM-Lösungen sind Großunternehmen. Sie sitzen meistens am Ende
der Supply Chain und optimieren diese. Kann dies auch ein
Mittelständler für seine Supply Chain realisieren?
Wildemann:
Auch im Mittelstand gibt es Potenziale zu heben. Das TCW hat Kunden aus
dem Mittelstand, die preiswerte SCM-Lösungen realisiert haben, die
vielleicht keine Lösung auf Dauer darstellen, aber mit denen ein
signifikanter Kostensprung erzielt wurde. Ein gutes Beispiel dafür ist
ein Möbelhändler, der mit seinen Kunden nun übers Internet
kommuniziert. Optimiert wurde der Produktgenerator; in einer
Expresswerkstatt werden innerhalb von 24 Stunden die
kundenindividuellen Wünsche realisiert. Ein Call Center wickelt alles
ab, was übers Internet nicht möglich ist. Eine Logistik wurde
eingeführt, mit deren Hilfe kurzfristig nachgeliefert werden kann, und
die Lagerhaltung wurde neu organisiert. Die neue Kombination von
bekannten Prozessen unter Einbeziehung der IT-Infrastruktur hat die
Optimierung gebracht.
Cybiz: Dient Supply Chain Management hauptsächlich der Kostenreduzierung oder ist es ein Wettbewerbsinstrument?
Wildemann:
Die IT-Komponenten entwickeln sich weg von einem Rationalisierungs- zu
einem Wettbewerbsinstrument. Wenn ich ein SCM-Projekt durchführe,
brauche ich nicht nur Konfliktbereitschaft im eigenen Unternehmen,
sondern auch im Zusammenspiel mit meinen Partnern. Ich muss auch eine
klare Vision darüber haben, wo ich hin will. Das ist im Mittelstand
weniger vorhanden. Es geht auch darum, an einer Technologie teilzuhaben
und sich nicht selbst aus dem Markt zu katapultieren, wenn sich dieser
weiterdreht. Je mehr ich begreife, dass SCM ein Wettbewerbsinstrument
ist, mit dem ich mich vom Wettbewerb differenzieren kann, um so mehr
benötige ich strategische Lösungen, die nicht auf reine
Kostenreduzierung zielen. Sonst schaffe ich nur Teillösungen, die einem
weiteren Innovationssprung nicht mehr standhalten. So entstehen
Fehlentwicklungen.
Cybiz: Die zuvor noch nie dagewesene
Informationstransparenz ist für die einzelnen Unternehmen
unterschiedlich erträglich. Heute Geschäftspartner, morgen wieder
Wettbewerber. Wie gehen nach Ihren Erfahrungen Unternehmen damit um?
Wildemann:
Das ist kein triviales Problem! Es geht gerade in der so genannten Old
Economy um das Zerstören von Bekanntem. Ich möchte mit einem Beispiel
antworten: Wir hatten bei einem SCM-Projekt eine logistische Kette mit
fünf Lieferanten. Weil der erste Lieferant die störungsanfälligsten
Prozesse hatte, sollte er deutlich höhere Warenbestände aufbauen. Ohne
entsprechenden Profit macht dies kein Unternehmen. Also haben wir ein
anderes Geschäftsmodell zu Grunde gelegt. Die Bestände von allen
Lieferunternehmen wurden einem unabhängigen Dienstleister übergeben,
der Eigentümer an den Beständen wurde. Jedes Unternehmen der Supply
Chain hat auf diese Bestände Zugriff und bezahlt dafür
transaktionsbezogen. Damit wurden zwei Effekte erzeugt: Die Bilanz der
jeweiligen Unternehmen wurde verkürzt, und alle Transaktionskosten
wurden transparent gemacht. Dies ist besonders dann attraktiv, wenn die
jeweiligen Unternehmen eine alternative Verwendung für das
nichtgebundene Kapital haben.
Cybiz: Wer profitiert von Supply Chain Management?
Wildemann:
Unabhängig von der Größe der Unternehmen und der einzelnen Branchen
gelten folgende Regeln: Durch SCM kann die Liefertreue um 40% zunehmen,
während sich die Lieferzeiten um 30% verkürzen. Die Durchlaufzeiten in
der Produktion lassen sich um 10% und die Bestände um rund 20% senken.
Gleichzeitig verbessert sich die Kapzitätsauslastung um 10%. Die Kosten
für Einkauf sinken um 8% bis 10%, die Kosten des Vertriebs um 3% bis
5%. Allerdings steigt der Aufwand für die Steuerung der Supply Chain um
15%.
Das Interview führte Anette Hämmerling
SCM (Supply Chain Management): Teilpolitik der Managementpolitik, deren Aktivitäten auf die Supply Chain gerichtet ist.
ERP (Electronic Ressource Planning) : Planungssystem zur optimalen Einpassung der eingehenden Aufträge in den Produktionsprozess.
Weiterführende Literatur