[15.02.2009]
In den vergangenen Jahren wurden deutsche Unternehmen auf schnelle und möglichst hohe Renditen getrimmt. Quer durch alle Branchen wurde Lean Management vor- und rückwärts durchbuchstabiert. Aber Lean-Management hat seine Grenzen, denn bei zuviel Lean wird der Blick auf die Zukunft verstellt. Aber was ist krank und was ist Lean? Professor Wildemann beschreibt wie sich Lean und ein gesundes Unternehmen durch offensive Management-Strategien vereinbaren lassen – selbst in der derzeitigen Konjunkturkrise.
Wirklich gut ist an der Konjunkturkrise nur das Tempo, mit der sie über das Land und die Unternehmen hereingebrochen ist. In den meisten Firmen waren Rationalisierungs- und Restrukturierungskampagnen noch in vollem Schwunge, als der neue Abschwung alle Hoffnungen auf ein paar faule und fette Jahre zunichte machte. Die ersehnte Atempause ist ausgeblieben. Nahtlos müssen jetzt Kosten und Abläufe weiter optimiert, muss die Suche nach Absatzmärkten und Innovationen gesteigert und das Management innovativer werden. Die Probleme von heute sind auch die von morgen. Ob es der Druck aus der Globalisierung oder der Druck aus der schrumpfenden Nachfrage ist, in beiden Fällen kann das Management nur durch Verbesserungen auf breiter Front, quer durch alle Bereiche des Unternehmens, gegenhalten – auch wenn zurzeit bei vielen Unternehmen die Auftragsbücher noch zum Bersten gefüllt sind.
So hat Linde-Chef Wolfgang Reitzle die Atempause nach der Übernahme des Konkurrenten BOC gleich wieder gestrichen: „Jetzt beschleunigen wir unser HPO (High Performance Organisation)”, so Reitzle ungerührt, „wir bringen nur noch mehr Schärfe rein.”
Schon in den vergangenen Jahren wurden die deutschen Unternehmen auf schnelle und möglichst hohe Renditen getrimmt. Quer durch alle Branchen wurde Lean Management vor- und rückwärts durchbuchstabiert. Die Rendite wurde gezielt nach oben gedrückt.
Aber das alles reicht kaum aus, um in der aktuellen Situation zu bestehen. In der gegenwärtigen Krise müssen Kapazitäten angepasst und gleichzeitig neue Marktchancen erkannt werden. Die Globalisierung hört ja nicht auf, nur weil wir gerade einen Konjunkturabschwung haben. Anders als in vergangenen Flauten lässt sich daher diesmal das Problem durch Massenentlassungen und Produktionskürzungen allein nicht lösen. Das Management braucht gleichzeitig offensive Strategien. Es muss im internationalen Wettkampf um die lukrativsten Märkte mit voller Kraft voraus fahren. Es muss das Innovationstempo steigern und gleichzeitig die Effizienz auf breiter Front verbessern.
Am Ende steht die Frage: „Wie kann ein Unternehmen lean und zugleich expansiv sein?“
Zunächst einmal sind rabiate Entlassungen und Werkschließungen in der gegenwärtigen Phase nicht das passende Heilmittel. Anders als in den Krisen der Vergangenheit werden viele Unternehmen diesmal eher vorsichtig zur Axt greifen. Der Grund ist die völlig andere Ausgangssituation. Nach mehr als zehn Jahren Restrukturierung sind die Ressourcen an Fabrikhallen und Mitarbeitern schon auf ein Minimum reduziert. In vielen Unternehmen herrschte zuletzt ein eklatanter Mangel an Menschen, Material und Kapazitäten. Durch die vorsichtige Personalpolitik der vergangenen Jahre wurde ein Heer von Zeitarbeitern herangezogen. Die werden in der Krise als Puffer herhalten müssen. Die Unternehmen haben gelernt, dass lean allein nicht glücklich macht. Etwas mehr als ganz wenig ist nämlich in vielen Fällen die überlegene Strategie.
Was ist krank und was ist Lean?
Der Siegeszug des Lean Management mündet scheinbar zwangsläufig in eine Phase des selbstgemachten Mangels. Es fehlt plötzlich an allem, was für eine schnelle Reaktion auf veränderte Anforderungen des Marktes gebraucht wird. Das abgemagerte Unternehmen reagiert auf Krisenfälle allergisch.
Die Unternehmen haben sich zwar gesund geschrumpft, doch sie laufen Gefahr, den Anforderungen des Marktes nicht mehr gerecht zu werden. Jetzt in der Krise fehlen plötzlich die innovativen Produkte, um die Nachfrage zu beleben. Es fehlen alternative Absatzkanäle und es fehlt ein Management, das auf die neuen Anforderungen richtig reagiert. Es ist ein ganz anderer Schuh, ob Lean in fetten oder in mageren Jahren gefahren wird. Plötzlich sind innovatives Handeln und schnelle Entscheidungen gefragt. Der Verkaufserfolg wird zum zentralen Problem des Unternehmens, doch das Management ist meist immer noch auf Restrukturierung programmiert.
Welche Ideologie soll herrschen?
Es ist im Grunde auch eine Frage der Weltanschauung. Ist Lean die dominierende Kraft im Unternehmen oder sollte es eine Unternehmensführung jenseits von lean geben?
Bisher jedenfalls herrschte die Vorstellung vor, dass durch ein alle Bereiche des Unternehmens umfassendes Lean Management auch die besten Ergebnisse erzielt wurden. Lean-Methoden eroberten so das Unternehmen in seiner ganzen Breite. Lean war das perfekte Instrument. Es konnte für alle Zwecke passend gemacht werden. Es brachte hervorragende Ergebnisse. Unternehmerische Kreativität und Sensibilität für das Unternehmen, für die Beschäftigten und die Märkte waren dabei eher störende Elemente.
Auch die Innovationskraft hat von Lean nicht profitiert. Für Innovationen muss immer erst einmal Geld ausgegeben werden, bevor sie am Markt wieder etwas einspielen. Nach Lean-Maßstäben war deshalb mit Innovationen kein Staat zu machen. Das rächt sich jetzt. Nach den langen Lean-Jahren ist es mit Innovationen aus dem Regal schlecht bestellt. Die Unternehmen haben in der Krise nichts anzubieten, was die Konsumenten wieder in Kauflaune versetzt.
Die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren eine kreative Unternehmensführung nicht vermisst wurde, beweist noch nicht, dass es ohne Kreativität in der Unternehmensführung geht. Den Mangel kann man verwalten, aber Krisen muss man aggressiv nutzen.
Lean hat Grenzen
In der Vergangenheit wurden nicht leanfähige Bereiche vorzugsweise abgeschafft. Die nicht messbaren Disziplinen waren ein Kostenfaktor – und die wollte man ja bekämpfen. Hier stellt sich erneut die Frage: Müssen wir Lean entschärfen? Brauchen wir sozusagen ein Lean Light, das sensible Bereiche von vornherein ausschließt?
Lean macht nur dann Sinn, wenn es auch die Unternehmensführung automatisch zu optimalen Entscheidungen zwingt. Das heißt, wir brauchen eine Lean-Methodik, die auch die nicht rechenbaren Funktionen eines Unternehmens optimal gestaltet. Wichtige unternehmerische Komponenten wie Kreativität, Gespür für die Märkte, Motivation und Fingerspitzengefühl sind im Lean-Katalog nicht enthalten. Sie sind aber wesentliche Merkmale einer herausragenden Unternehmensführung.
Softfaktoren als Lean-Methode?
Der Aufgabenbereich der Führung wird durch Lean in Bezug auf die Softfaktoren bisher nicht abgedeckt. Die unternehmerische Führung wird im Gegenteil durch Lean eingeengt. Lean Mangement ist gewollt ein Korsett, das der Führung des Unternehmens im Grundsatz enge Grenzen vorschreibt. Es ist gerade die Stärke der Methode, dass sie einen wirksamen Automatismus für richtige Entscheidungen im Unternehmen verankert.
Doch für die Ausrichtung des Unternehmens wird auf längere Sicht eine Führung gebraucht, die auch etwas mit kreativem Wagemut zu tun hat. Ein bereits bestehendes und auf bestimmte Ziele ausgerichtetes Unternehmen mit einer passenden Methode zu optimieren, ist eine Sache. Eine ganz andere Sache aber ist es, ein Unternehmen neu auszurichten oder es veränderten Umständen anzupassen.
Deshalb brauchen die Unternehmen gerade in der gegenwärtigen Krise eine strategische Führung, die nicht einer Methode untergeordnet ist. Erst die Strategie entscheidet, wann und wo Lean eingesetzt wird.
Was macht ein gesundes Unternehmen aus?
So gesehen ist für ein gesundes Unternehmen ein Mittelweg vorgezeichnet. Es braucht eine zumindest wettbewerbsfähige Kostenposition. Mit dem Einsatz von Lean kann dieses Ziel erreicht werden. Damit ist das Unternehmen insgesamt aber noch lange nicht auf der richtigen Spur. Es ist nur eine der Voraussetzungen für den Unternehmenserfolg realisiert. Die wettbewerbsfähige Kostenstruktur muss in eine gesunde Unternehmenskultur eingebettet sein. Diese Kultur ist der eigentlich entscheidende Teil für die Gesundheit des Unternehmens. Über die Kultur wird die Motivation der Mitarbeiter gesteuert, sie fordert Vertrauen in der Zusammenarbeit, Innovationsstärke und sie fordert Weitsicht bei der Ausstattung des Unternehmens mit Ressourcen.
Eine Unternehmenskultur fällt nicht vom Himmel. Sie wird von der Unternehmensführung geprägt, durch Unternehmensstatuten gestützt und von den Mitarbeitern verstanden und umgesetzt. Sie ist der wichtigste Beitrag der Unternehmensführung zum Unternehmenserfolg.
Für die Unternehmen ist kein Zyklus endgültig. Und es darf in der Erntephase auf keinen Fall der Blick auf die nächste Generation von Innovationen verstellt werden. Das Unternehmen ist als ein ewiger Prozess zu verstehen, in dem es sich immer wieder selbst neu erfindet. Bei einem kranken Unternehmen ist dieser Prozess gestört. Bei zuviel Lean wird der Blick auf die Zukunft verstellt. Dem Rendite-Ziel wird ein zu hoher Stellenwert eingeräumt.
Das Unternehmen muss dennoch krank werden. Die Einengung auf Rendite verhindert eine längerfristige und kreative Planung. Die Zukunft wird dann gar nicht mehr unternehmerisch geplant, sondern lediglich als eine Fortsetzung der Gegenwart betrachtet. Das Unternehmen verliert seine Zukunftsfähigkeit und seine Wettbewerbskraft. Und damit ist es schwer krank.