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Produktklinik: Potenzial für den Standort Deutschland durch eine intelligente Produktgestaltung

[14.04.2005]

Foto: alphaspirit / fotolia.com
"Ingenieurnews" im Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Horst Wildemann

Weshalb die Bezeichnung „Produktklinik"?

Hinter dem Begriff der „Produktklinik" verbirgt sich eine systematische Untersuchung und Analyse von Produkten. Vergleichbar mit der medizinischen Vorgehensweise erfolgt, basierend auf den Erkenntnissen der Analyse, eine Diagnose und die Einleitung einer adäquaten Therapie. Allerdings sind die Produkte, die innerhalb einer „Produktklinik" zu analysieren sind, keineswegs „krank". Vielmehr geht es darum, die Herstellkosten bei einer gleichzeitigen Erhöhung des Kundennutzens zu senken. Das Ziel besteht in der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Verbesserung des Erfolgbeitrags des zu untersuchenden Produkts.

Wie definieren Sie Produktklinik?

Die Produktklinik ist eine strukturierte und methodengestützte Vorgehensweise zur Wertgestaltung von Produkten und Prozessen. Die Erarbeitung der Lösungsansätze geschieht in funktionsübergreifenden Teams, mit dem Ziel der Entwicklung neuer Lösungsalternativen, die Kosten- und Leistungs­potenziale an Produkten und Prozessen auf­zeigt und neue, den Kundenanforderungen besser ent­sprechende technisch-konstruktive Attri­bute bietet. Die Orientierung an den Kundenanforderungen ist dabei essenziell. Im Gegensatz zum Benchmarking sind bei der Produktklinik auch die, auf Grund von pauschalen Be­trachtungen als „schlechte­r" beurteilten Wettbewerber zu analysieren, da diese oftmals im Detail Bestlö­sungen realisiert haben. Dabei ist die ganzheitliche Bewertung der technischen Lösungen ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Die aus der Produktklinik gewonnenen Erkenntnisse lassen sich auf das untersuchte, angrenzende und zukünftige Produkte übertragen. Die Produktklinik bietet die Chance, auf veränderte Marktanforderungen zu reagieren. Durch das Lernen am Produkt lassen sich unter Beibehaltung der vom Markt geforderten Funktionalitäten Kostensenkungspotenziale realisieren. Die „Produktklinik" ermöglicht auch eine Zuordnung von notwendigen Ressourcen und die Bewertung ihrer Wirkung auf den Unternehmenserfolg.

In zwei Absätzen zusammengefasst: Was macht die „Produktklinik"?

Die Produktklinik bietet durch einen direkten Vergleich die Möglichkeit, das in den Wettbewerbsprodukten gebun­dene Wissen über einen ana­lytischen, systematischen Prozess kennen zu lernen und zu nutzen. Dies geschieht durch die Zusammenführung des im Unternehmen an unterschiedlichen Stellen vorhandenen Wissens über das eigene Produkt. Ergänzt wird dies durch den Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn aus der detaillierten Betrachtung, Diskussion und der technisch-kaufmännischen Bewertung der Wettbewerbsprodukte.

Die Vorgehensweise liefert Erkenntnisse darüber, welche Funktionen in allen Benchmarkobjekten realisiert sind, welche Funktionen sich auf einzelne Produkte beschränken und welche Kosten mit der Realisierung der Funktionen verbunden sind. Die Veränderung von bei den Wettbewerbsprodukten vorhandenen Lösungen durch die Adaption von erkannten Bestlösungen ist ein wesentlicher Hebel zur Kostenreduzierung, wobei die Übernahme der vorgefundenen Lösungen im Sinne einer Kopie meist nicht in das eigene Konzept zu integrieren ist. Vielmehr bedarf die vorgefundene Lösung der Anpassung an das eigene Konzept, dessen Weiterentwicklung oder der innovativen Kombination mehrerer Lösungselemente. Das Ergebnis sind optimierte, kostenreduzierte technische Lösungen.

Um einen langfristigen Nutzen aus der Produktklinik zu erreichen, ist das Konzept nicht einmalig für ein einzelnes Produkt und einen einzigen Wettbewerber anzuwenden, sondern als ein rollierender Pro­zess des Vergleichens und Lernens für jede neue Pro­duktgeneration zu initi­ieren.

Wer arbeitet mit dieser Methodik in der Praxis?

Die Methode der „Produktklinik" geht über diesen traditionellen Ansatz weit hinaus, so dass sie nicht an ein bestimmtes Produkt-, Fertigungs-, Verfahrens-, einen Unternehmens- oder Branchentyp gebunden ist. Vielmehr lässt sich die Vorgehensweise der „Produktklinik" unter Berücksichtigung der Produktspezifika sowohl im industriellen Bereich als auch bei Dienstleistungen anwenden. Selbst in der Versicherungswirtschaft konnten wir durch die Neugestaltung von Verträgen signifikante Verbesserungen erreichen.

Welche Erfolge können damit erzielt werden?

In 94 erfolgreichen Anwendungen der Produktklinik in unterschiedlichen Branchen hat sich gezeigt, dass sich die aus ihr ergebenden Wirkungen nicht allein auf eine Reduzierung der Kosten am Produkt um über 30% beschränken. Vielmehr zeigen sich positive Effekte bei der Anzahl der Einzelteile und bei der Leistungssteigerung.

Monetär messbar ist die Reduzierung der Kosten, die im Mittel über 30% (Min. 18% bis Max. 60%) beträgt. Auf der Ebene einzelner Baugruppen sind punktuell weitaus höhere Potenziale erreichbar. Die Kosteneffekte resultieren aus neuen technischen Lösungen und einer Wertgestaltung der Funktionen, die vom Kunden gewünscht werden. Kurzfristige Effekte können sich durch das Aufzeigen alternativer Bezugsquellen ergeben. Auch ergibt sich eine Reduzierung der Teilevielfalt. Dies kann durch eine Funktionsintegration und die Reduzierung der Variantenvielfalt erreicht werden. Gleichzeitig wirkt die Produktklinik durch die Einbeziehung der Mitarbeiter auf diese motivierend. Unterstützt wird der positive Effekt durch die Diskussion alternativer Lösungsmöglichkeiten in der Fertigung und Montage, wobei alte Wege verlassen und neue Wege beschritten werden. Positive Effekte ergeben sich durch die Vereinfachung von Prozessen und der Reduktion von Komplexität, auf die indirekten Unternehmensbereiche. Durchschnittlich konnten Leistungssteigerungen von 12% gemessen werden.

Die Effekte, die sich durch die Produktklinik erreichen lassen, können sowohl kurz-, als auch langfristiger Natur sein. Die Realisierung von Quick-Wins wird in gleicher Weise angestrebt, wie umfangreichere Veränderungen, die einen erhöhten konstruktiven Aufwand und ein Investment in Produktionsanlagen erfordern.

Ist es für große wie kleine Unternehmen gleichermaßen einsetzbar?

Die Unternehmensgröße spielt keine Rolle. Gerade für KMUs besteht durch die Nutzung von externem Wissen und dem im Unternehmen vorhandenen Wissen die Chance, Quantensprünge in der Kostenreduzierung zu realisieren und sich dem Kostendruck durch den Abnehmer zu entziehen. Die Investitionen in derartige Projekte amortisieren sich meist binnen eines Jahres.

Was sollte jemand bedenken, der Interesse an dem Einsatz der „Produktklinik" hat?

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der „Produktklinik" ist die richtige Zusammensetzung der Bearbeitungsteams. Diese sollen die Prozesskette abbilden. Um den Kundennutzen weiter zu erhöhen, werden für Detailfragen Spezialisten temporär in die Projektarbeit eingebun­den. Dadurch hat jeder Beteiligte die Möglichkeit sein spe­zifi­sches Ar­beitsge­biet zu beleuchten und die Produktklinik als persönli­chen Lernort zu nut­zen. Weitere Faktoren sind der ganzheitliche, an den Kundenanforderungen orientierte direkte Produktvergleich und die richtige Auswahl der Vergleichsobjekte. Hierzu zählen neben dem Kosten-, Technologie- und Marktführer auch branchenfremde, aber mit ähnlichen Funktionsumfängen ausgestattete Produkte. Die beste Methodik führt nicht zu dem gewünschten Erfolg, wenn die Unterstützung durch das TOP-Management nicht vorhanden ist oder es an der Motivation der mitwirkenden Mitarbeiter mangelt. Die Wirksamkeit der Kostenreduktion wird durch die effiziente und zielgerichtete Umsetzung der erarbeiteten Ansatzpunkte, begleitet durch ein fundiertes Controlling, unterstützt.

Welches sind die ersten Schritte, die Sie empfehlen?

Es ist ein Produkt auszuwählen, ein Bearbeitungsteam zusammenzustellen und eine geeignete Datenbasis zu schaffen. Hierzu bedarf es auch der Kenntnis der Kundenanforderungen. Über eine Conjoint-Analyse können die hierfür benötigten Informationen ermittelt werden. Aus diesem Wissen heraus sind die Zielkosten unter Berücksichtigung des erwarteten Gewinns zu definieren und die Istkosten diesen gegenüberzustellen. Daran schließt sich die Identifikation der Kostentreiber an. Natürlich ist auch ein anspruchvolles Kostenziel, das mit Hilfe der „Produktklinik" erreicht werden soll, im Vorfeld zu definieren. Beschleunigend wirkt sich die Qualifizierung der Projektmitarbeiter in unserem Seminar „Produktklinik" aus (Info: www.tcw.de).

Können Sie an einem Praxisbeispiel den Einsatz veranschaulichen?

Selbstverständlich. Ganz aktuell hat ein international agierendes Unternehmen der Nutzfahrzeugbranche die Chance gesehen, die Wettbewerbsfähigkeit einer neuen Produktbaureihe vor Markteinführung zu stärken. Erreicht werden konnte eine Herstellkostenreduzierung von über 28%, obwohl bereits während der Produktentwicklung Maßnahmen zur Kostenreduzierung durchgeführt wurden.

Da das Unternehmen als Premiumanbieter auf dem Markt auftritt, waren mit jeder Kostensenkung auch mögliche Auswirkungen auf die Qualität und Funktionalität des Produktes zu berücksichtigen. Ausgangsbasis für den Wettbewerbsproduktvergleich war die vor Entwicklungsbeginn der neuen Baureihe durchgeführte Kundenbefragung. Um sicherzustellen, dass branchenübergreifende Ideen bei der Kostenoptimierung einfließen, wurden neben den direkten Wettbewerbsprodukten auch Geräte aus anderen Bereichen, so aus der Baumaschinenbranche, in die Untersuchung einbezogen. Der Vergleich der Produkte erfolgte funktionsorientiert in Baugruppen. Je nach vermutetem Erkenntnisgewinn wurde die Analyse auf Baugruppen- oder Teileebene durchgeführt.

Aufgrund der hohen Produktkomplexität wurden die Ansatzpunkte in mehreren crossfunktional zusammengesetzten Spezialistenteams erarbeitet. Neben Ideen zu direkten Produktverbesserungen am Referenzgerät wurden Varianten und Sonderausführungen in die Untersuchungen einbezogen und auf Möglichkeiten der Standardisierung und Komplexitätsreduzierung hin untersucht. Nach der Ableitung von Maßnahmen und der Zuordnung von Verantwortlichkeiten wurden die Aufwände zur Potenzialerschließung ermittelt, Maßnahmenpakete gebildet und Umsetzungszeiträume festgelegt. Als Ergebnis wurde ein Potenzial für die Senkung der Herstellkosten des Produktes von über 20% identifiziert.

Weitere Informationen, Fallstudien und Checklisten unter: www.tcw.de

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