[31.07.2020]
Die Corona-Pandemie hat einen Trend stark befeuert: Das digitale Arbeiten von daheim. Mitte März 2020 stieg die Häufigkeit der Suchbegriffe „Remote“ und „Home-Office“ sprunghaft an: 4-mal häufiger als noch im Monat zuvor suchten Menschen weltweit nach Wegen, wie die neue Zusammenarbeit aus der Ferne organisiert werden kann. Der Konsens durch alle Führungsetagen in den Unternehmen ist überraschend: Jeder singt das Hohelied des Home-Office. Es stellt sich die Frage, ob dies nicht zu unreflektiert geschieht.
Kein Manager muss für einen guten Führungsstil noch den Schweiß auf der Stirn der Mitarbeiter sehen. Dafür haben wir mittlerweile andere Führungskonzepte. Der Begriff „Management by Objectives“ ist nun schon über 60 Jahre alt, aber die Kernaussage wird zur Rechtfertigung einer Auflösung der Präsenzarbeit momentan wieder neu aufgearbeitet: Dass Menschen über die Zielerreichung geführt werden müssen, nicht nach Stempelkarte. Es sei ja nicht die Anwesenheit im höhenverstellbaren Bürostuhl, die gemessen werden muss, sondern vielmehr die Qualität und die innovative Schöpfungshöhe der Arbeitsergebnisse. Warum nicht gleich als nächsten innovativen Schritt zur mitarbeiterorientierten Personalführung das Büro abschaffen? Die Schärfe, mit der dieser Umbruch eingefordert wird, überrascht, fehlen doch die empirischen Befunde über die langfristigen Erfolgswirkungen und eine Betrachtung der Risiken.
Viele Unternehmen verordneten ihren Mitarbeiter notgedrungene oder präventive Zwangsisolation. Eingeschüchtert vom Worst-Case-Szenario eines kollektiven Kollapses atmeten die Unternehmen auf – denn die verbliebenen Kunden wurden bedient, Zeitungen erschienen weiterhin und die öffentliche Versorgung war weitgehend sichergestellt. Wir haben die Unternehmen am Laufen gehalten. Was viele Digital-Euphoriker aber nicht differenzieren: Es ist sehr wohl ein Unterschied, ein System im Notmodus zu betreiben, oder kreative Innovationsleistung und Werthaltiges zu leisten mit dem Ziel, bestehende Wertschöpfung weiterzuentwickeln. Vielleicht liegt der Euphorie zur Remote-Arbeit auch eine allzu graue Bewertungsperspektive zugrunde: Wenn ich vom Schlimmsten ausgehe, tendiere ich auch dazu, ein „besser als gedacht“ vorschnell als Gewinn zu verbuchen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich jedenfalls: Die großen Ideen, aus denen wir zusammen mit unseren Kunden neue Geschäftsmodelle oder innovative Produkte entwickelten, entstanden Face-to-Face. In Workshops bei kreativen Methoden wie dem Design-Thinking oder in hitzigen Diskussionen entsteht die Energie, die Neues in die Welt bringt. Es ist nicht die Abarbeitung von To-Do-Listen im stillen Kämmerlein, deren Arbeitsstand sich sicher durch allerlei Tools messen lässt, die uns im Maschinenbau oder in der Automobilindustrie zum Technologieführer gemacht hat. Es ist der Funke, der entstehen kann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammenarbeiten, der zu guten Ideen und noch besseren Konzepten führt. Es mag sein, dass Abstimmungsrunden sich telefonisch häufig schneller erledigen lassen und nicht alle angesetzten Meetings auch wertschöpfend sind. Ich warne aber davor, nun nach zwei Monaten Digitalarbeit dem physischen Kooperationskonzept, das ja ein Erfolgskonzept ist, vorschnell abzuschwören. Zu unklar sind die langfristigen Konsequenzen.
Wird die Innovationsfähigkeit leiden? Nach 20 Jahren Innovationsprojekten und Cost-Engineering haben wir gelernt, dass sich Kreativität zum Teil methodisch organisieren lässt. Es gibt kein Kochrezept für Breakthrough-Erfindungen wie das Smartphone oder die Glühbirne – das ist einigen genialen Köpfen vorenthalten. Aber der Anteil an Kreativität im Unternehmen, der zur Verbesserung von bestehenden Produkten, Services und Prozessen aus Sicht des Kunden beiträgt, kann methodisch erhöht werden. Viele unserer Ansätze bauen darauf auf, dass Mitarbeiter mit verschiedenen Perspektiven mit Leidenschaft am physischen Produkt die eigenen Überzeugungen vertreten – getreu dem Motto: Du hast eine Idee, ich habe eine Idee und gemeinsam erzeugen wir mehr als die Summe unserer Ansichten.
Gleiches gilt für Verkaufs- und Verhandlungssituationen. Verhaltensforscher und Psychologen sind sich seit Jahren einig, dass das gesprochene Wort nur einen Teil der Erfolgswirkung ausmacht. Junge Berufseinsteiger werden kurz nach dem Einstellungstermin in Seminare geschickt, um die hohe Kunst der Überzeugungskraft zu lernen und trainieren Körper, Stimme und Außenwirkung. Immer dann, wenn es gilt, das Gegenüber von den eigenen Visionen zu überzeugen, setzen wir uns durch den Digitalkanal einen Filter und das Verhandlungsergebnis aufs Spiel. Wer im Vertrieb also die Reisetätigkeiten reduziert, torpediert den eigenen Geschäftserfolg, denn nur wenige Unternehmen bekommen ihre Aufträge aufgedrängt.
Die Risiken, die mit digitaler Fernkommunikation verbunden sind, dürfen wir ebenso wenig unterschätzen. Gerade Menschen in kleinen Mietwohnungen, die Familie und zwei Jobs nun in 3-Zimmern unterbringen müssen, werden wohl schnell an die psychische Belastungsgrenze gebracht, wenn sich das gesamte Leben 24h auf wenige Quadratmeter verdichtet. Zudem stehen für viele Haushalte kaum die notwendigen IT-Infrastrukturen zur Verfügung. Wenn wir uns auf der einen Seite so vor den Angriffen der Cyber-Kriminalität fürchten und deswegen unsere Firmen-Server hinter hohen Firewalls abschotten, wäre es doch frappierend, wenn wir in Zukunft sensible Informationen wie technische Zeichnungen einfach vom heimischen Heimnetzwerk aus versenden würden. Auch weisen Psychologen jetzt schon darauf hin, dass Corona-bedingter Lagerkoller nicht zu unterschätzen ist. Viele Arbeitnehmer werden unter den Folgen der Isolation leiden, denn ein Büro befriedigt auch soziale Bedürfnisse.
Die Leidenschaft, mit der Remote-Arbeit trotz der ja offenkundigen Risiken pauschal als Königsweg bejubelt wird, ist bemerkenswert. Fast scheint es, als ob manche die neu gewonnene Bequemlichkeit der Jogginghosen-Meetings so liebgewonnen haben, dass sie die Risiken großzügig ausblenden. Trotz der vielen kompromisslosen Befürworter gibt es jedoch einige Manager, welche die Folgen bereits spüren. Viele beklagen, dass sie eigentlich gar nicht wissen, wie es den Mitarbeitern geht, denn der Computerbildschirm wirkt wie ein Milchglas: Es verbirgt die Emotion durch pixelige Aufnahmen, verhindert ein kollegiales Schulterklopfen und verödet die Zusammenarbeit.
Sicher können wir auch einiges lernen aus den neuen Arbeitsformen – und zwar aus Daten. Es zeigt sich, wenn wir die Unternehmensdatenbanken anzapfen und neue Tools zur Big-Data-Analyse nutzen, können wir trotzdem produktiv sein, denn das Lernen aus den eigenen Daten funktioniert von überall aus. Viele Manager erzählten mir in den vergangenen Wochen, dass sie Data Science für sich entdeckt haben, um quasi aus der Not eine Tugend zu machen. Die Hypothese dahinter: In den Transaktionsdaten im Unternehmen steckt viel Information – wie Bestände durch smarte Optimierung gesenkt werden können, wie Umsätze durch bessere Preissetzungen erhöht oder Kosten durch produktivere Produktionsbedingungen gesenkt werden können. Im Unterschied zu früher sind die Algorithmen nicht mehr im Versuchsstadium, sondern erprobt. Immer mehr kleine Unternehmen entwickeln mittlerweile Ideen zur Kostenreduzierung oder Umsatzsteigerung mithilfe von Datenspezialisten. Es zeigt sich also: Auch von zuhause ist Innovation möglich.
Die Zeit können und sollten wir also nicht zurückdrehen. Die Remote-Arbeit wird sicher nicht wieder auf Vorkrisen-Niveau zurückgefahren werden. Das wäre auch Unsinn, können wir doch die Vorteile für uns nutzen. Wie immer gilt es, das richtige Augenmaß zu finden. Hüten sollten wir uns aber vor Pauschalmentalität und allzu blauäugigen Entscheidungen. Manager sollten deswegen genau prüfen, für welche Arbeitsbereiche Remote-Arbeit als scharfes Instrument zur Effizienzsteigerung dient und wo ein Verlust von Innovation oder Aufträgen droht und die Regelungen dementsprechend wählen. Komfort sollte allerdings nicht der Grund dafür sein mit den Erfolgsmustern aus der Vergangenheit zu brechen.
Der Autor Horst Wildemann ist Professor an der TU München und Geschäftsführer der Unternehmensberatung TCW in München. Diese berät Unternehmen bei der Einführung innovativer Technologien und neuer Geschäftsmodelle.